Persönliche Erfahrungen in den Zeiten der Pandemie.

Mark Granovetter veröffentlicht 1973 im American Journal of Sociology den Text ‘The Strength of Weak Ties’. Er untersucht dort die Bedeutung schwacher Beziehungen für das soziale Miteinander. Die Unterscheidung von schwachen (weak) und starken (strong) Beziehungen (ties) ist zentral für seinen Aufsatz. Er bietet Dimensionen der Operationalisierung an, geht aber davon aus, dass wir ein intuitives Verständnis der Unterscheidung haben. Im Deutschen lässt sich die Unterscheidung im Privaten durch die von Freund.in und Bekannte.r wiedergeben. Im Beruflichen unterscheiden wir zwischen engen Teamkolleg.innen und anderen Beschäftigten des gleichen Arbeitgebers, mit denen wir zu tun haben. Ich werde von starken und schwachen Bindungen sprechen und genau diesen Unterschied meinen.

Granovetter beginnt damit, dass er unter allen möglichen Beziehungen zwischen drei Menschen (A, B und C) die Unwahrscheinlichste benennt. Wenn zwischen A und B eine starke Bindung bestünde, wäre die, bei der A eine starke Bindung zu einer Person C hat und B keine Bindung zu dieser Person, die Unwahrscheinlichste. Anders gesagt: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Freund.innen meiner Freund.innen nicht wenigstens Bekannte von mir sind. Oder, so formalisiert es Granovetter, wenn S die Vereinigungsmenge der Beziehungen der Personen A und B ist, dann ist die Menge der Personen in S, die eine Beziehung zu A und B haben um so größer, je stärker die Bindung zwischen A und B ist.

Eine besondere Bedeutung hat für Granovetter der Begriff der Brücke. Eine Brücke ist eine schwache Bindung zwischen zwei Personen, zwischen deren sozialen Netzwerken es sonst keine Verbindung gibt.

Granovetter belegt seine These an zwei Untersuchungen. Jobsuche ist das Thema der ersten Untersuchung. Diese zeigt, dass Personen, die eine neue Stelle gefunden haben, diese eher durch die Vermittlung von Personen, mit denen sie schwach verbunden sind erhalten haben. Plausibilisieren lässt sich das so, dass ich die Jobgelegenheiten in meinem engen Umfeld selbst gut kennen, durch lose Bekanntschaften aber auf Gelegenheiten aufmerksam gemacht werde, von den ich nichts geahnt haben. Die lose Bekannte in München kennt bestimmt ganz andere Jobangebote als die, die in meinem engen Freundeskreis eh schon zirkulieren.

Der Widerstand eines Stadtteils gegen ‘Häusersanierung’ (Die Anführungszeichen setzt Granovetter. Er weist damit auf den Charakter der Sanierung hin, die das Sozialsystem des Stadtteils zerstört hat.) ist das Thema der zweite Untersuchung. Granovetter untersucht, warum es einem Bostoner Stadtteil gelungen ist, erfolgreich gegen eine Sanierung Widerstand zu leisten, und einem anderen nicht. Nachdem er andere Unterschiede, wie soziale Schichtung, als Kriterium ausgeschlossen hat, zeigt er, dass in beiden Stadtteilen starke soziale Einheiten (Familien, ethnische Gruppe) existierten. In dem einen der beiden Stadtteile kamen aber keine Brücken zwischen diesen Einheiten vor, während die Einheiten in dem anderen durch solche verbunden waren. Dem Stadtteil, der über dem Netz der starken Bindungen durch familiäre und ethnische Strukturen noch ein Netz von Brücken zwischen den einzelnen Gemeinschaften spannte, gelang die Mobilisierung und Verhinderung der Sanierungswelle, dem andern nicht.

Granovetter beschließt seinen Artikel mit dem Fazit, dass schwache Bindungen wichtig für die Chancen von einzelnen und für die Integration von Gemeinschaften seien und dass starke Bindungen zwar den lokalen Zusammenhalt förderten, aber zur allgemeinen Fragmentierung beitrügen.

Was hat das alles mit Corona und dem Leben in Zeiten der Pandemie zu tun? Wir werden sehen. Ich arbeite jetzt seit dreieinhalb Monaten zuhause. Seit dem Lockdown Mitte März habe ich keine Veranstaltungen wie Kino, Vorträge oder Konzerte mehr besucht, alle Feiern wurden abgesagt. Meine Arbeit klappt erstaunlich gut. Ich arbeit als Softwareentwickler und hatte in meinem Team schon sporadisch Erfahrungen mit Remote-Arbeit gesammelt. Von einem Tag auf den anderen haben wir beschlossen, unsere Arbeit von zuhause zu erledigen. Die Arbeit eines Programmierenden lässt sich relativ leicht an einen anderen Ort verlegen. Die Zusammenarbeit im Pair- oder Mob-Programming funktioniert über kollaborative Tools wie Zoom erstaunlich gut. Eingespielte Rituale wie ein morgendliches Standup erlauben die Koordination der Arbeit einfach von off- auf online umzustellen. Das ‘Alle sind jetzt remote’ stellt eine Gleichberechtigung zu den Kolleg.innen her, die bisher als einzige remote unterwegs waren. Sie bekommen jetzt genauso viel mit wie alle anderen.

Wie fühlt sich die Arbeit so an? Die Meetings sind mehr auf den Punkt. Was zum Thema gemacht wird, wird ohne größere Abschweifungen, die offline gerne auftreten, bearbeitet. Meetings fühlen sich funktionaler an. Die Zusammenarbeit am Code, das gemeinsame Programmieren, klappt erstaunlich gut. Gerade in einer größeren Gruppe ist es besser, wenn jede.r an einem eigenen Bildschirm die Arbeit verfolgt, als wenn der Mob sich um einen Beamer scharrt. Probleme gibt es beim Skizzieren. Wie kann man schnell die Beziehung zwischen drei Klassen aufzeichnen. Das Whiteboard, an das man mal eben treten kann, hat noch kein wirkliches digitales Pendant. Zoom bietet Whiteboards an, Zeichenprogramme, deren Ansicht geteilt ist, funktionieren auch und iPads mit Stiften sind sogar nahe an der Haptik des Whitboards, aber all diese Formen sind noch zu mittelbar. Das Werkzeug zwischen Idee, Gedanken und Skizze ist zu präsent, um einen ungehinderten Austausch zu unterstützen.

Im Großen und Ganzen gelang es uns gut, unsere Zusammenarbeit in den digitalen Raum zu verlagern. Wir waren mit den Ergebnissen zufrieden und die Artefakte, die wir an den Kunden auslieferten, unterschieden sich nicht von denen aus der Vor-Corona-Zeit. Nach einer kurzen Phase der Neuorientierung, die jeder Umzug mit sich bringt, hatte sich die Arbeit eingespielt. Erst ganz allmählich zeigten sich Unterschiede, die subtilerer Natur waren, die subkutan ihre Wirkung entfalteten. Obwohl jetzt mehr Zeit vorhanden war, die Fahrtzeit zum Büro fiel weg, wurde mein Empfinden nicht entstannter. Die gemeinsame Arbeit am Bildschirm, die mehr auf den Punkt war, zeigte ihre Kehrseite. Das Nicht-auf-den-Punkt-sein der Offline-Arbeit schien eine Funktion zu haben, die ich unterschätzt hatte. Sehr konzentriert über einen längeren Zeitraum gemeinsam an einer Aufgabe zu arbeiten strengt an. Wenn der Fokus der gemeinsamen Aufmerksamkeit durch eine Videokonferenz wie in einem Brennglas gebündelt bleibt, steigt die Anstrengung. Während sich das Bedürfnis nach einer Pause, nach einem Mal-was-anderes-zum-Thema-machen beim Nebeneinandersitzen im Büro quasi viral verbreitet, weil alle spüren, jetzt muss mal kurz abgeschwiffen werden, braucht es remote einen Moment länger, es muss erst explizit werden, es reicht nicht, wenn es sich auf der Ebene der Körpersprache artikuliert, es muss durch den Körper in den Kopf, in die Aufmerksamkeit und in die Kommunikation, um verhandelt und beschlossen zu werden. Und die Pause ist dann entsprechend: Entweder gemeinsam, dann wird man den Bildschirm und die Haltung nicht los oder alleine, zum Abschalten. Am Abend bin ich ausgelaugter, obwohl ich nicht das Gefühl habe, mehr Stunden gearbeitet zu haben. Ich empfinde es eher als Missverhältnis, gefühlt habe ich weniger unternommen, denn ich war ja nicht vor der Tür, auf dem Rad auf dem Weg zur Arbeit, und trotzdem bin ich geschafft.

Es ist nicht nur die Arbeit im engeren Sinne, die Arbeit in Team, die sich verändert. Das kleine Nebenbei der Arbeit verschwindet. Der Plausch, wenn man sich zusammensetzt, bevor man mit der eigentlichen Arbeit startet, das Mitkriegen dessen, was da hinten gesagt worden ist, das zufällige Zusammentreffen in der Kaffeküche, das Spüren der Stimmung in einem Meeting, noch bevor jemand etwas gesagt hat, das Anpassen der eigene Aussage, noch während man spricht, weil man erlebt, wie der oder die andere ihre Körperhaltung verändert, ihre Gesichtszüge sieht - all diese kleinen, impliziten sozialen Interaktionen fallen einfach weg. Und mit diesen kleinen Wahrnehmungen verschwinden die Ahnungen für das Große, wie ist die Stimmung in der Gruppe, verschwinden die Impulse für einen neuen Gedanken, was hatte nochmal jemand in der Küche eben gesagt, verschwinden die Überblicke, welches Thema hatten die zwei am anderen Schreibtisch diskutiert? Alles was nicht explizit organisiert und festgestellt wird, findet nicht statt. Die Kommunikation wird digital: Ich mache es zum Thema oder nicht, ich frage direkt danach oder nicht, ich sage meine Meinung oder nicht. Die Zwischentöne, die Grauzonen sind verschwunden. Das, was man ahnen konnte, das, was man in der Anbahnung spürte, das, was man heraufziehen sah, ist jetzt entrückt, der Zone der Sichtbarkeit entschwunden. Es leidet die Kreativität. Diese lebt von den nicht geplanten Anregungen, von den zufälligen Küchendialogen, vom einfach mal was mitkriegen. Nach dreieinhalb Monaten fühle ich mich ausgetrocknet. Auf eine ganz subtile Weise ausgetrocknet. Nicht so wie man sich in einer Wüste fühlt, sondern so als ob einem jeden Tag ein halbes Glas Wasser verweigert wird. Das stört erst nicht, doch nach ein paar Tage stellt sich ein trockenes Gefühl im Mund ein. Es verschwindet wieder und kehrt zurück. Und dann ist es auf einmal Dauerzustand. Die Trockenheit breitet sich aus.

Soweit - so gut. Aber was hat das mit Granovetter zu tun. Mir kommt es so vor, als ob die starken Bindungen funktionieren, als ob die starken Bindungen sich gut in den Online-Modus versetzen lassen und die schwachen verkümmern. Das was ich für die Arbeit beschrieben habe, lässt sich für mein privates Leben fortschreiben. Gute Freunde (strong ties) sehe ich nach wie vor. Es hat nicht lange gedauert, bis wir unsere Weinabende in Videokonferenzen verwandelt hatten. Aber mit Bekannten (weak ties), Menschen, die ich auch sonst nur sporadisch treffe, habe ich wenig Kontakt. Wieviele Menschen habe ich in den letzten drei Monaten kennengelernt? Auf einer Bahnfahrt, einer Konferenz, bei einer Veranstaltung, einer Feier - niemand.

Man könnte das Abtun. Die Maschine läuft nach wie vor. Es sind die strong ties, die sie am Laufen halten. Ich sehe enge Freunde. Die Zusammenarbeit im Team klappt gut. Die Arbeit ist produktiv. Aber es sind die weak ties, die unsere Antennen weit über den eigenen Dunstkreis ausrichten, die uns mit Anregungen versorgen, die uns mit anderen verbinden. Folgen wir Granovetter schwinden mit den weak ties die Chancen, die wirklich neu für uns sind, die Anregungen, auf die wir alleine nicht gekommen wären, fragmentieren die Sozialstrukturen in die Gruppen, die eng verbunden sind.

Nachtrag

Ausweglos? Zwei Impulse bestimmen mich. Luft anhalten, bald ist es vorbei. Bald kann ich wieder in den Normalzustand zu meinen gewohnten Praktiken zurückkehren. Und: Das dauert länger, Erstarrung ist keine Perspektive. Wie kann ich die Grauzone, das Implizite, die weak ties in die Remote-Welt verpflanzen. Wenn das Virus uns noch bis weit in das nächste Jahr beschäftigen wird, ist der erste Impuls keine Alternative. Er blockiert das Sich-Stellen der neuen Situation. (Aber mit allem Recht, denn er ist von einer tiefen Trauer gespeist.) Es ist kein Wunder, das die Welt der strong ties, der expliziten Aufgaben, der festen Strukturen die Führung übernommen hat, denn diese zu virtualisieren ist einfacher, sie sind explizit. Ich mache aber, immer öfter, Erfahrungen, oft zufällig, wie auch schwache Bindungen, implizite Regungen ihren Weg in die Welt der Fernwahrnehmung finden können. Diese Erfahrungen sind noch sehr schlicht und einfach. Ich will sie trotzdem nennen. Es ist wichtig, bei einer Videokonferenz die Kamera an zu haben. Wenn ich das Gesicht der anderen Person sehe, bin ich ein bisschen mehr bei ihr. Es ist schön, wenn die andere Person mich anschaut und ich sie nicht von der Seite oder von unten beim Sprechen beobachten muss. Ich fühle mich angesprochen. Es lohnt sich, virtuell zum Jammern oder anderen ‘unproduktiven’ Formaten zusammen zu kommen. Dabei entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft, das ich lange vermisst habe. Große Gruppen müssen, so es irgend geht, geteilt und dann gerne ab und an gemischt werden, damit man in kleiner Runde, mit Kamera, spricht. Sonst unterscheidet sich die Teilnahme an einer Runde nicht mehr von der isolierten Aufnahme durch eine Kamera. Wenn unbedingt große Runde, dann gerne als Gespräch moderiert, so dass soziale Interaktion wenn nicht praktiziert so doch erlebt werden kann. Das sind erst die ersten einfachen Erfahrungen, ich hoffe die nächste Zeit wird neue bringen. Trotzdem freue ich mich wieder auf das wirklich wirkliche Zusammenkommen.