Es gibt Beispiele, die sind komplizierter als das, was sie illustrieren sollen. Aber irgendwie - und dieses irgendwie muss man groß schreiben - IRGENDWIE veranschaulichen sie einen Aspekt so überdeutlich, dass sie doch wichtig sind. So geht es mir mit der Frage des Übergangs. Ich habe einmal in einer Veranstaltung gesessen, ich weiß heute nicht mehr wie ich dahin kam, in der es um die Entstehung der 12-Ton-Musik ausgehend vom späten Bruckner ging. Ich verstehe eigentlich nichts von Musik, ich kann mit der 12-Ton Musik Schönbergs, wenn ich sie höre, nichts anfangen, und ich kenne kein einziges Werk des späten Bruckner mit Namen, aber die Veranstaltung beschrieb ein Muster so plastisch und anschaulich, dass ich fasziniert war.

Musikstücke - jetzt sollte jeder Nichtlaie weghören - haben eine Tonart. Ich kann mir das am einfachsten am Klavier vorstellen. Die 8 weißen Tasten angefangen beim C bilden die Grundtöne der Tonart C-Dur. Die Abstände der Tasten beim Klavier - egal ob weiß-weiß oder weiß-schwarz - bestehen aus einem Halbton. Da nicht zwischen allen weißen Tasten eine schwarze ist, gibt es weiße Tasten, die einen halben Ton und weiße Tasten, die einen ganzen Ton auseinander liegen. Wenn ich beim C anfange und nur die weißen Tasten drücke, habe ich eine Tonleiter, die klingt. Dabei habe ich zwei Ganztonsprünge, einen Halbtonsprung, dann wieder drei Ganztonsprünge und einen Halbtonsprung. Diese Reihe (1-1-0,5-1-1-1-0,5) kann ich jetzt bei jedem Ton starten. Wenn ich z.B. beim G beginne habe ich die G-Dur-Tonleiter. Ich muss in den Tonarten entsprechend viele schwarze Tasten drücken, um auf meinen Grundtönen zu bleiben. Was bleibt sind immer die Abstände der Töne in der Grundtonleiter.

Wo war ich? Ach ja! Musikstücke haben eine Tonart. Diese ist am Anfang eines Stückes markiert. Ich lege damit fest, welche acht Tasten ich drücke darf. Wenn ich nun der Meinung bin, ich brauche mal einen anderen Ton, der jetzt eigentlich nicht erlaubt ist, kann ich diesen einzelnen Ton mit einem Vorzeichen versehen und darf außer der Reihe drücken. Der Vortrag, von dem ich erzählen wollte, beschäftigte sich mit der Musik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, insbesondere mit der Musik Anton Bruckners. Es hieß im Spätwerk Bruckners würde eine schwebende Tonalität herrschen. Das meinte, die Stücke hätten zwar eine Tonart - ganz am Anfang des Stücks wäre eine notiert - es gäbe aber so viele Vorzeichen an einzelnen Noten im Stück, dass diese Tonart kaum noch zu erkennen sei - eben schwebend. Bruckner hätte mit den Mitteln der klassischen Tonalität das ausgereizt, was sich komponieren liesse, wenn man den Begriff der Tonart nicht aufgeben wolle. Den nächsten Schritt, ob das musikhistorisch überhaupt Sinn macht kann ich nicht beurteilen, stellte die 12-Ton-Musik Arnold Schönbergs dar. Schönberg ‘befreite’ die Musik vom Korsett der Tonalität. Er schuf eine Musik, die alle Tasten (12) gleichberechtigt nebeneinander stellte. Damit wäre es leicht gewesen, die Musik zu notieren, die der späte Bruckner komponiert habe. Mit der Befreiung von der Tonalität entstanden ganz neue Möglichkeiten von Musik, die neue Notation eröffnete Felder, die im Kontext der alten Notation nur als Randgebiete sichtbar waren.

Mich faszinierte an dem Vortrag das Muster, welches überdeutlich wurde. Das Neue - Schönbergs 12-Ton-Musik - was keine Erfindung, mit der man dann neue Sachen machen konnte. Im Gegenteil. Das Alte, die klassische Form der Musik hatte sich an eine Stelle entwickelt, an der ihr formales Gerüst bis an ihre Grenzen belastet wurde, an eine Stelle, an der sich die Sinnhaftigkeit dieser formalen Struktur stellte. Das Neue befreite nur den schon vorhandenen neuen Inhalt aus der alten Form und ließ ihm Raum sich weiter zu entwickeln.

Ich denke dass es sich mit vielen neuen Dingen so verhält, das sie auf dem Boden des alten entstehen, dieses bis an die Grenzen des Sinnhaften beanspruchen und so den Übergang zu etwas Neuem - nicht nur vorbereiten -, sondern erzwingen. Wer zum Beipiel den Text von Winston Royce ‘Managing the Development of Large Software Systems’ liest, der gemeinhin als Manifest des Wasserfallmodells gilt, wird finden, dass dieser Aufsatz im Gegenteil sehr viele Anmerkungen zum Wasserfallmodell macht, die in Richtung einer agilen Sofwareentwicklung weisen. Mehr Agilität geht im Modell des Wasserfalls wahrscheinlich gar nicht. (Ich habe versucht das hier auszuführen.)

Etwas ähnliches scheint sich im Moment im Bereich Scrum/Kanban zu vollziehen. Wir setzen auf der Arbeit in unseren Projekten Taskboards ein. Die genaue Gestalt variiert von Team zu Team, aber ein Taskboard haben fast alle. Wenn ich mir die Boards der Projekte anschauen, die Tagesbetrieb/Wartung und Kleinprojekte machen, dann haben die nie den Charakter eines Scrum-Taskboards. (Ein echtes Scrum-Taskboard: Am Anfang der Iteration sind alle Karten links und am Ende rechts.) In den Tagesbetriebsprojekten führt es dazu, dass die Wochenplanungen immer wichtiger werden als die Releasemeetings, sofern es sie für das ganze Projekt noch gibt. Und es führt dazu, dass das Team das Gefühl hat, etwas falsch zu machen. ‘Eigentlich muss das doch anders gehen.’ Das Werkzeug ‘Prozess’ verwandelt sich in ein Korsett. Die Stellschrauben, die Scrum einführt, greifen in diesen Projekten nicht wirklich. Das Messen der Geschwindigkeit funktioniert nicht wirklich, weil sehr viele Aufgaben als dringende während des Sprints dazukommen. Das widerspricht zwar dem Gedanken des Sprints ist aber in Wartungsprojekten unerläßlich. Natürlich gibt es Workarounds: rote Karten, die nicht mitgemessen werden oder Puffer, die von vornherein für Wartung und Bugfixing reserviert werden. Es ist aber nicht sehr befriedigend einen großen Teil der Arbeit während eines Sprints nicht in die Messung einzubeziehen.

Die Kanban-Diskussion hat den befreienden Effekt, dass sie die Diskussion in eine andere Richtung lenkt. Es heisst nicht mehr Scrum Ja oder Nein, sondern es werden Instrumente sichtbar, mit denen man einen Prozess gestalten kann, der in einem Umfeld stattfindet, das keine feste Timebox mehr erlaubt. Die Diskussion um Kanban zeigt bspw. wie man den Durchsatz messen kann, wenn es einem nicht möglich ist die Geschwindigkeit im klassischen Sinne zu messen. Mit Beschränkungen der Warteschlangengrößen wird eine Stellgröße sichtbar, die der klassische Scrumprozess nicht kannte und auch nicht brauchte, da er in einem andern Umfeld zu hause ist. Insofern habe ich dass Gefühl Kanban ist das Neue, was auf dem Boden des Alten entstanden ist. Jetzt gilt es allerdings nicht mehr die Diskussion Alt gegen Neu zu führen, sondern auszuprobieren, wie sich die Instrumente, auf die Kanban die Aufmerksamkeit lenkt, einsetzen und erweitern lassen. Die Beipiele, die ich bisher in den verbreiteten Präsentationen gesehen habe - vor allem Verklemmungen beim Deployment - haben etwas Triviales, man hat den Eindruck, hier hätte nicht Kanban, sondern etwas gesunder Menschenverstand genügt.</p>